Wechselwirkungen zwischen politischer Ordnung und Wirtschaftsordnung

Der Bildungsplan möchte, dass ihr die Wechselwirkungen zwischen politischer Ordnung und Wirtschaftsordnung erläutern könnt. Diese Formulierung ist etwas tricky, weil man sie schnell missverstehen kann. Es geht dabei nämlich eigentlich nicht um die Wechselbeziehungen zwischen POLITIK und WIRTSCHAFT, sondern explizit um die politische ORDNUNG und die WirtschaftsORDNUNG.

 

Halt, halt... waurm gibt es keine Einführungspräsentation?

 

Weil es sich bei diesem Punkt nicht wirklich lohnt. Habt ihr das mit der Ordnung verstanden?

 

Ähm ja. politische Ordnung bedeutet sowas wie Herrschaftssysteme, oder?

 

Im Großen und Ganzen ja. Aber es geht noch etwas darüber hinaus. Eigentlich kann man sogar Wirtschaft und Gesellschaft nicht trennen. Klarer wird das, wenn man sich die - und da folge ich Christian Sitte von der Universität Wien in seiner Definition - zwei idealtypischen Gesellschaftssysteme anschaut:


Individualistische Gesellschaftsordnung
  • Freiheit des Einzelnen vor Gruppeninteressen
  • Vorrang für Privatinitiativen
  • Persönliche Gleichberechtigung
  • Verteilung der Ergebnisse nach Leistung
  • Staat setzt nur Rahmenbedingungen
  • Privateigentum an Produktionsmitteln
 Kollektivistische Gesellschaftsordnung
  • Gruppeninteressen vor Freiheit des Einzelnen
  • Vorrang für staatliche Initiativen
  • Klassenkampf (Ziel: klassenlose Gesellschaft)
  • Gleichheit in der Verteilung der Ergebnisse
  • Dominierende Rolle des Staates
  • Kein Privateigentum an Produktionsmitteln

(Quelle: https://homepage.univie.ac.at/christian.sitte/PAkrems/zerbs/volkswirtschaft_I/haupttexte/wio.html; geändert)


So. Und jetzt stellen wir dem die beiden idealtypischen Wirtschaftssysteme gegenüber und dann müsste euch eigentlich was auffallen...

 


Freie Marktwirtschaft
  • Dezentrale Planung durch die Produzenten und die Konsumenten
  • Privateigentum an Produktionsmitteln, freie Unternehmensgründung
  • Freier Arbeitsmarkt, Vertragsfreiheit
  • Koordinierung der Einzelpläne durch die Signalfunktion der Marktpreise
  • Belohnung wirtschaftlicher Leistungen durch Gewinn
  • Sanktionierung von Fehlleistungen durch Verlust (bis zum Konkurs)
  • Setzung von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen durch den Staat
zentralgeleitete Planwirtschaft
(Zentralverwalungswirtschaft)
 
  • Zentrale Planung durch den Staat
  • Staatliches Eigentum an Produktionsmitteln
  • Staatlich geregelter Arbeitsmarkt, keine Vertragsfreiheit
  • Koordinierung der Einzelpläne durch die Planungsbehörde
  • Belohnung plangerechter Leistungen durch Prämien, Titel und Orden
  • Sanktionierung von Fehlleistungen gegenüber dem Plan durch Kontrolle
  • Totaler Staatseingriff in die Wirtschaft

(Quelle: https://homepage.univie.ac.at/christian.sitte/PAkrems/zerbs/volkswirtschaft_I/haupttexte/wio.html;)

 


Und? Fällt euch was auf?

 

Ja. die individualistische Gesellschaftsordnung führt irgendwie zwangsläufig zu einer freien Marktwirtschaft und die kollektivistische zu einer Planwirtschaft, oder?

 

Das ist die große Frage: Was beeinflusst was? Deswegen spricht der Bildungsplan auch von "Wechselwirkungen".

 

Jetzt sind wir aber ja bei Gesellschaftssystemen. Was hat das dann mit politischer Ordnung zu tun?

 

Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass sich in individualistisch geprägten Gesellschaften - und damit auch im Wirtschaftssystem der freien Marktwirtschaft - einfacher Demokratien bilden und in kollektivistischen - und damit in Planwirtschaften - einfacher autokratische oder sogar diktatorische Systeme.

 

Ahhh. Wegen der Macht des Staates?

 

Genau. Je mehr Macht im Staat zentralisiert wird, desto höher die Gefahr einer Autokratie. So zumindest die gängige Meinung. Allerdings soll nicht verschwiegen werden, dass dies natürlich eine sehr ... positive Sicht der freien Marktwirtschaft voraussetzt. Die letzten Wirtschaftskrisen und viele Beispiele von Marktversagen mahnen da zur Vorsicht. Deswegen scheint es mir wichtig, noch ein paar Literaturtipps zu geben, um beide Seiten zu Wort kommen zu lassen. Dabei handelt es sich aber eigentlich nicht mehr vollständig um diesen Bildungsplanpunkt, da es weniger um die Ordnungen als vielmehr um die Frage "Wie viel Staat muss sein?" geht. Aber irgendwie hängt das ja auch zusammen.


Literaturtipps:

 

Als Grundlagentext empfiehlt sich wie so oft die Bundeszentrale für politische Bildung. In diesem Beitrag analysiert Hans-Jürgen Schlösser das Verhältnis von Staat und Markt. Der Text ist zwar von 2007, aber die Grundaussagen treffen bis heute zu. Dennoch ist ob des Alters des Texts leichte Vorsicht geboten. Sehr empfehlenswert als kritischer Einwurf ist dieser Beitrag von Sven Jochem, der argumentiert, dass "in der Öffentlichkeit ein Bild von der Sozialen Marktwirtschaft [skizziert wird], in dem die leistungsbereite Wirtschaft den Guten gibt, die demokratisch legitimierte Politik als dumm, habgierig, unersättlich und verschwenderisch gebrandmarkt wird. Fatal ist, dass diese in der Öffentlichkeit oft wiedergekäute, normativ überhöhte Frontstellung zwischen Staat und Markt ein Zerrbild ist, das aber trotzdem die Pfeiler der Sozialen Marktwirtschaft nach und nach normativ aushöhlt."

Katja Scherer geht in ihrer Reportage für den Deutschlandfunk von 2019 der Frage nach, wie viel Staat die Wirschaft braucht. Der Beitrag ist auch als Audio abrufbar und wirft ein umfangreiches Bild auf die Liberalisierungstendenzen seit den 80er Jahren.

Kritisch gegenüber zu viel Staat ist Uwe Cantner vom Stifterverband in diesem Interview (das über den Link zu Youtube angeschaut werden kann.