Begriff und Begriffsgeschichte
G. ist ein vielschichtiger Begriff, der von der Tischg. bis zur Reiseg., von der G. der Musikfreunde bis zur Aktieng. reicht. Die Verbundenheit oft sehr heterogener Personen für einen bestimmten Zweck, ob kurz- oder längerfristig, ist entscheidend.
Dem Wortursprung nach bedeutet G. die Vereinigung oder ein Beisammensein mehrerer Gefährten. In der deutschen Sprachentwicklung ist G. mit Gemeinschaft und Genossenschaft verknüpft. Wichtiger war die griech. und die lat. Begriffsgeschichte. Seit Plato (428–348) und Aristoteles (384–322) hat der Begriff (lat. societas civilis) einen bis heute beibehaltenen Sinn: G. umfasst eine größere Gruppe von Menschen (wie z. B. in der polis, dem Stadtstaat der Griechen), die in einem Zusammenhang wechselseitig eingebrachter Interessen und Fähigkeiten stehen, auf einem klar definierten Territorium leben, sich als politische und soziale Einheit begreifen und außerhalb ihrer Grenzen auch so wahrgenommen werden. Zu ergänzen ist die anthropologisch fundierte Aussage, „dass der Mensch von Natur ein nach der staatlichen Gemeinschaft strebendes Wesen“ (zoón politikón) ist (Aristoteles, Politik, 1278b).
In allen Etappen der europäisch-abendländischen Staats- und G.stheorie blieb der antike Kerngedanke von bürgerlicher G. und schützendem Staat erhalten (Überblick bei Riedel 1975). Er lebte weiter im Bürgertum der mittelalterlichen Städte und Stadtrepubliken. Unter den Bedingungen des Frühkapitalismus, der Aufklärung und der bürgerlichen Revolutionen bildete sich die spezifische Form der bürgerlichen G. der Neuzeit heraus, als eine vom Liberalismus geprägte Marktg., als politisch-nationale Einheit und als Rechtsg., die die Freiheitsrechte aller Menschen zur Geltung bringt und sichert.
Die Staats- und G.stheorie von G. F. W. Hegel (1770–1831) konzipierte auf den Grundlagen v. a. der aristotelischen Philosophie, nunmehr unter den Vorzeichen der industriellen und französischen Revolution 1789 ff., einen bis heute wirksamen G.sbegriff: Familie, bürgerliche G. und Staat sind die Basisinstitutionen einer durchgängig auf Recht beruhenden G.sformation, wie Hegel in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (zuerst 1821) ausführte.
D als Staats- und G.ssystem ist nach seinem „G.svertrag“ (J.-J. Rousseau, 1762) dem Typus bürgerliche G. zuzuordnen. Konstitutiv ist die Trennung von G. und Staat. Während der Staat für die innere, rechtliche, soziale und äußere Sicherheit zuständig ist, kann G. als Handlungssphäre der freien Bürger bezeichnet werden; sie können sich nach ihren Vorstellungen in Vereinen und Genossenschaften assoziieren und in den Institutionen (wie Familie) und G.en des bürgerlichen Rechts (BGB) durch Verträge zusammenschließen. Entwicklungen hin zu einer „Verstaatlichung der G.“ und einer „Vergesellschaftung des Staates“, die sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt haben, verwischen allerdings die Differenz von Staat und G.
In der DDR (1949–1990) war, wie in allen sozialistischen G.en, diese Differenz, theoretisch und praktisch, aufgehoben. Der Staat der bürgerlichen G. sei nur eine „Agentur für Kapitalinteressen“, unter deren Dominanz die bürgerliche Sphäre insgesamt gerate.
G. im soziologischen Verständnis
Die Entwicklung der Soziologie ist mit der Herausbildung der bürgerlichen G. eng verknüpft. Sieht man von wichtigen Vorläufern ab, zu denen L. von Stein (1815–1890) und W. H. Riehl (1823–1890) zählen, die beide von Hegels Rechtsphilosophie ausgingen, so hat erst F. Tönnies (1855–1936) einen spezifisch soziologischen G.sbegriff entwickelt. In „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (zuerst 1887) analysierte er die Entwicklung von der ständisch-feudalen, agrarischen G. zur modernen Industrieg. mit ihren Trends der Anonymisierung in den größer werdenden Städten und der Verselbstständigung des Individuums. So lässt sich nach Tönnies G. denken, „als ob sie in Wahrheit aus getrennten Individuen bestehe, die insgesamt für die allgemeine G. tätig sind, indem sie für sich tätig zu sein scheinen“. War das „Zeitalter der Gemeinschaft (…) durch den sozialen Willen als Eintracht, Sitte, Religion bezeichnet“, so ist es das der G. „durch den sozialen Willen als Konvention, Politik, öffentliche Meinung“ (Tönnies 1963, S. 251).
Zu den Grundlagen der industriell-bürgerlichen G. gehören: die Freisetzung des Einzelnen zu selbst gewählter Familienbildung, freie Wahl von Ausbildung und Arbeitsplatz und der Zugehörigkeit zu Vereinen und sozialen Gruppen sowie die Ablösung bisheriger, ständischer und städtischer Formen der gesundheitlichen und sozialen Fürsorge durch gesamtgesellschaftliche (bzw. staatliche) Institutionen. Voraussetzung für das Wirksamwerden dieser Trends war die Ausdifferenzierung und weitgehende Autonomisierung aller gesellschaftlichen Teilbereiche: Recht und Politik, Markt und Produktion, Religion und Kirche, Kultur und Bildung, Arbeit und Freizeit.
G. wird mit unterschiedlichen Akzentuierungen in allen soziologischen Makrotheorien thematisiert: Strukturfunktionalismus (T. Parsons, R.K. Merton), Systemtheorie (N. Luhmann), Theorie der Frankfurter Schule (T.W. Adorno, J. Habermas), Modernisierungstheorie (Zapf 1970). Für Luhmann (1927–1998) ist G. „das umfassende soziale System, das alle anderen sozialen Systeme in sich einschließt“ (1998, S. 78).
Quelle: Andersen, Uwe/Wichard Woyke (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 8., aktual. Aufl. Heidelberg: Springer VS 2021. Autor des Artikels: Bernhard Schäfers