Modelle der sozialen Differenzierung


Was findet ihr hier? Klickt euch durch den Überblick.


Vorläufer-Modelle

die vielleicht gerade wieder an Aktualität gewinnen...

 

Vorläufer der modernen Modelle ist die Idee der Ständegesellschaft, wie sie vor allem im Mittelalter und in Europa bis zur Französischen Revolution verbreitet war. Hier findet ihr eine kurze Zusammenfassung, die euch die Stände im Mittelalter näherbringt und hier (ganz kurz), wie es in Frankreich während des Absolutismus aussah.

 

Aus der Ständegesellschaft wiederum entwickelte sich im 19. Jahrhundert der Begriff der Klassengesellschaft. Dabei ist "mit dem Begriff [...] die Vorstellung verbunden, dass man die Bevölkerung eines Landes in unterschiedliche Gruppen oder Klassen aufteilen kann. Als Beispiel dafür wurde das Bild einer Pyramide gebraucht."

 

Das ist doch dann das Gleiche wie bei der Ständegesellschaft, oder?

 

Ja und nein. Bei der Ständegesellschaft war das einteilende Merkmal die Herkunft. Nun wird die Gesellschaft plötzlich nach Besitz eingeteilt. Denn bei der Klassengesellschaft bildet "die Klasse der Land- und Fabrikarbeiter, die auch "Arbeiterklasse" genannt wurde, [den Sockel]. [...] Darüber folgte die Klasse der Handwerker und Gewerbetreibenden, der kleinen Beamten und Angestellten. Darüber waren die "Besitzbürger". [...] An der schmalen Spitze der Pyramide fand man die wirklich reichen Leute. Sie konnten allein von den Zinsen ihres Kapitals leben und beeinflussten auf Grund ihres Reichtums die Wirtschafts- und Finanzwelt ebenso wie die Politik.

 

Für den Kommunismus war das Modell der Klassengesellschaft die Grundlage seiner Weltanschauung. Die Kommunisten und Marxisten sagen, dass die Interessengegensätze zwischen den Klassen unversöhnlich seien. Sie glauben, dass nur ein Klassenkampf zu mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft führen können." Marx unterscheidet im Großen zwischen zwei Klassen: dem Proletariat (Arbeiterklasse und Handwerker) und der Burgeoisie (der besitzenden Klasse). Es geht bei dem Klassenkonzept also stärker um Besitz- und Machtfragen.

(Zitate aus: https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/das-junge-politik-lexikon/320630/klassengesellschaft)

 

Jaja, das wissen wir aus Geschichte. Aber warum sollte das wieder an Aktualität gewinnen? Das ist doch uralter, kalter Kaffee?

 

Eigentlich ja. Und deswegen steht das auch nicht mehr explizit im Bildungsplan. Aber seit Beginn der Corona-Pandemie hat der Begriff der "Klassen" wieder erheblich an Reiz gewonnen. Er taucht plötzlich überall auf und auch führende Sozialwissenschaftler setzen sich erneut mit ihm auseinander. Ich empfehle deswegen, diesen Auszug aus Christoph Butterwegge: Ungleichheit in der Klassengesellschaft (2021) zu lesen. Er gibt einen schönen Überblick über das Thema "Klassengesellschaft" und schlägt den Bogen zur aktuellen Situation in der BRD. Ebenso zu empfehlen ist dieser Artikel von Peter Nowak zum gleichen Thema. Jedoch ist hier Vorsicht geboten. Er verwendet zwar den Begriff "Klassenkampf" und "Klassen", vermischt ihn meiner Meinung nach jedoch auch mit dem Schichtenbegriff (siehe unten). Und wer es ganz ausführlich will, dem sei dieser Zeit Schwerpunkt ans Herz gelegt. Da sind eine Menge echt guter Texte drin.

Und auch das Internet scheint sich zu einer Klassengesellschaft zu entwickeln. So zumindest argumentiert die taz hier (das ist eher weniger was für die Abivorbereitung, aber dennoch interessant).

 

Jetzt aber rein in die Bildungsplan-Modelle!


Schichtmodell (oder eher: Schichtmodelle!)

 

Beginnen wir mit...

 

Stoooopppp. Soooo viel Text. Können wir nicht ein Video anschauen?

 

Geduld. Für die ersten beiden Schichtmodelle gibt es leider keine wirklich guten Videos. Aber dann! Ich versprech's!

 

Ok... aber wehe, wenn nicht.

 

Also. Beginnen wir mit zwei Modellen, die wir aber auch wirklich schnell abhandeln. Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft nach Schelsky und die "Bolte-Zwiebel" nach Karl Bolte. Und wenn ich da nach Videos suche, finde ich nur Rezepte für Zwiebelsuppe...

 

Nivellierte Mittelstandsgesellschaft  (Helmut Schelsky 1953)

Nach Ende des zweiten Weltkrieges ging Schelsky davon aus, dass sich die Klassen und Schichten in der deutschen Gesellschaft durch soziale Mobilität aufgelöst hätten. Es habe also eine Nivellierung (= Glättung, Angleichung) stattgefunden. Der Name deutet schon darauf hin, dass dies laut Schelsky zu einer Mittelstandsgesellschaft mit sehr kleinen Ausreißern nach oben und unten geführt habe.

 

Literaturempfehlung für die Auseinandersetzung mit dem bei Schelsky zentralen Thema der sozialen Mobilität:

Olaf Groh-Samberg und Florian Hertel beschäftigen sich in diesem Beitrag mit dem Thema Auf-und Abstieg in der Gesellschaft. Zwar ist dieser bereits 2015 erschienen, bietet aber einen wichtigen Interpretationsansatz (für die schnellen Leser: Am Ende gibt's die Ergebnisse gut zusammengefasst). Ihre Sichtweise auf das Thema bietet einen wichtigen Interpretationsansatz: Sie argumentieren, dass Mobilitätserfahrungen wichtig für die Legitimität sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft sind (denkt an Rawls...!). Wenn also sozialer Auf-und Abstieg nicht möglich ist, geht dies mit einem Vertrauensverlust in das System einher.

Die "Bolte-Zwiebel" (Karl Bolte 1967)

 

Etwa zehn Jahren nach Schelksy kam Karl Bolte zu einer etwas anderen Schlussfolgerung. Ihm zufolge besteht (bzw. bestand) die deutsche Gesellschaft aus Ober-, Mittel- und Unterschicht, wobei zwar die Mittelschicht dominiere, aber die Schichten trotzdem deutlich ausdifferenziert seien. Die sozialen Schichten werden in dem Modell durch folgende Kategorien bestimmt: Bildung, Einkommen und Ähnlichkeit der Berufe. Stellt man diese Schichten grafisch dar, erhält man eine Zwiebelform.

(Quelle: Bolte u.a. 1967)


Ok. Das haben wir auch noch gelesen... aber jetzt wollen wir ein Video!

 

Noch nicht ganz. Erst müsst ihr verstehen, warum diese zwei Modelle wichtig für die folgenden Modelle sind. Die Idee, dass sich durch soziale Mobilität (also sozialen Auf- und Abstieg) die Klassen und Schichten auflösen, war revolutionär. Schelsky war also eine Gegenbewegung zu der Idee der Klassengesellschaft (die ja nur durch Revolution überwunden werden konnte und nicht durch Auf- und Abstieg - zumindest laut Marx). Doch Bolte schob dem Ganzen wieder einen Riegel vor. Ja, es gibt Auf- und Abstieg, aber trotzdem haben wir Schichten in der Gesellschaft. Und diese sind doch einigermaßen starr. Bolte wiederum war also eine Gegenbewegung zu Schelsky.

 

So.

 

Und JETZT kommt ein Video. Denn etwa gleichzeitig mit Bolte kam ein weiteres Schichtmodell "auf den Markt". Und DAS müsst ihr definitiv in- und auswending können.

Dahrendorf-Haus (Ralf Dahrendorf 1965)

Und falls ihr jetzt noch weiter ins Detail gehen wollt, gibt es noch folgende Literaturempfehlung: Diese Zusammenfassung von Rainer Geißler (der gleich nochmal im Zusammenhang mit Häusern wichtig werden wird) ist nämlich fast schon ein Muss.

 

Hmmm, also auch sieben Schichten, aber einfach eine andere Darstellungsweise als Bolte?

 

Nicht ganz! Es geht nämlich zum einen um die Verteilung in der Gesellschaft und zum anderen um die Betonung von Mobilitätsbarrieren. Aber ja, das Grundprinzip ist zumindest ähnlich.

 

Aber es wird noch komplizierter! Rainer Geißler selbst hat nämlich Dahrendorfs Haus weiterentwickelt. Und auch das müsst ihr kennen und wissen. Denn es ist das aktuellste Schichtmodell und damit der "state of the art" in dieser Modellrichtung.

Geißler-Haus (Rainer Geißler 2006)

Ihr seht, dass wir es plötzlich mit 13 Schichten (bzw. Schichtteilen) zu tun haben. Lassen wir Geißler selbst zu Wort kommen und den Unterschied zu Darendorf erklären: „Zum einen hat sich das vergleichsweise einfache Wohnhaus der 1960er Jahre in eine ansehnliche Residenz mit Komfortappartements verwandet;  selbst im Kellergeschoss ist es – von einigen Ecken abgesehen – inzwischen etwas wohnlicher. Zum anderen sind die Decken und Wände

noch durchlässiger geworden."

Geißler geht es also auch um die horizontale soziale Mobilität in der Gesellschaft. Etwas, das bei den Modellen vorher keine relevante Rolle gespielt hat.

 

Geißler hat außerdem das Darendorf-Haus um Ausländer erweitert und sie in einer Art "Anbau" dargestellt.

 

 

(Zitat und Bild nach: https://ediss.sub.uni-hamburg.de/bitstream/ediss/3760/1/lebensstil-und-urbane-segregation.pdf, S.18)

Literaturempfehlung

Zur Vertiefung und Ergänzung ist dieses Hefte zu empfehlen:

  • Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Sozialer Wandel in Deutschland (Informationen zur politischen Bildung, H. 324/2014)

Rainer Geißler beschreibt folgende Themen: Bevölkerung, materielle Lebensbedingungen, Rolle der Eliten, Armut und Prekariat, Migration und Integration, Bildungsexpansion und Bildungschancen, Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern und Facetten der modernen Sozialstruktur. Außerdem werden die einschlägigen Modelle der Sozialstrukturanalyse gut dargestellt.

 

(Bildquelle: https://pixabay.com/users/geralt-9301/)

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Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Sozialer Wandel in Deutschland (Informationen zur politischen Bildung, H. 324/2014)
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Soziale Milieus (1980er)

Bisher haben wir uns in der Analyse der Sozialstruktur vor allem in einer Vertikale bewegt. Es ging um Auf-und Abstieg, um Schichten und Klassen und um "oben" und "unten". In den 80er Jahren wurde vom "Sinus-Institut" ein neuer Ansatz entwickelt, der vor allem für die Markt- und Wahlforschung wichtig war (und ist), der aber auch für die Analyse der Gesellschaft als Ganzes eingesetzt werden kann. Die Grundüberlegung ist, dass Menschen aus der gleichen Schicht trotzdem völlig unterschiedlich leben und Entscheidungen treffen können. Das muss erklärt werden! Und wenn das Sinus Institut das schon mal selbst macht.... hier ist ein Video:

Literaturempfehlungen:

Mal wieder lohnt sich Geißler, der die Sozialen Milieus in seinem, oben schon zitierten, Überblickartikel erklärt. Wer es gerne ausführlicher hat, der möge Michael Vesters Artikel in APuZ von 2006 lesen (alt, aber immer noch gut). Und wer es NOCH ausführlicher will, für den bietet unten herunterzuladendes Büger im Staat Heft ein wahres Festmahl an Lektüre.

  • LpB BaWü (Hrsg.): Der Bürger im Staat. 2/3 -2016: Soziale Milieus

Ausgesprochen empfehlenswert sind v.a. die Aufsätze von Stefan Hradil (Wie viel soziale Ungleichheit verträgt eine Gesellschaft?), Judith Niehues (Verunsicherte Milieus - eine Mittelschicht im Abstiegsangst?) und Oscar Gabriel (Die Erosion sozialer Milieus und der Wandel des Wählerverhaltens)

 

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LpB BaWü (Hrsg.): Der Bürger im Staat. 2/3 -2016: Soziale Milieus
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Exklusion/ Inklusion

Nun machen wir einen letzten Schritt. Es ging bislang um "oben und unten", um "links und rechts" und jetzt geht es um "drinnen und draußen".

 

"Das Modell von Exklusion und Inklusion ist das jüngste der vier Modelle [Klassen/Schichten, Milieus, Lagen, Exklusion]. Sein zentrales Konzept der Exklusion – auf Deutsch am besten mit "soziale Ausgrenzung" wiedergegeben – begann seine Karriere in den 1990er-Jahren in Frankreich bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der sogenannten neuen Armut, der Arbeitslosigkeit und der räumlichen Segregation. Wichtige Impulse für die weitere Ausbreitung in Europa kamen aus dem politischen Raum. [...] Die deutsche Sozialforschung reagierte mit einiger Verzögerung, aber seit Ende der 1990er-Jahre greift auch sie das Konzept der Exklusion häufiger auf (z. B. Martin Kronauer 2010) und verwendet es in zahlreichen, zum Teil umstrittenen Varianten.

 

Vom Klassen-Schichten-Modell unterscheidet sich das Exklusion-Inklusion-Modell in drei wesentlichen Punkten:

 

  • Im Zentrum steht nicht die vertikale Aufteilung der Gesellschaft in oben, Mitte und unten, sondern die beiden Pole drinnen und draußen. Es geht nicht darum, wer wo in der Gesellschaft steht, sondern darum, wer "drinnen" oder "draußen" ist.
  • Soziale Ungleichheit wird nicht – wie im vertikalen Modell und im Modell der sozialen Lagen – als graduell abgestufte Ungleichheit zwischen verschiedenen Schichten, Geschlechtern, Altersgruppen oder anderen Gruppen erfasst, sondern im Zentrum der Analyse steht ein gesellschaftlicher Bruch, eine Spaltung der Gesellschaft in Zugehörige und Ausgeschlossene, "Überzählige" (Marx), an den Rand Gedrängte. Im Fokus stehen die extrem Benachteiligten, denen ein Platz im anerkannten gesellschaftlichen Gefüge verweigert wird. Exklusion wird dabei mehrdimensional begriffen: Wichtige Dimensionen sind die Arbeitslosigkeit als Ausschluss vom Erwerbsleben, Armut sowie räumliche Ausgrenzung durch Wohnen und Leben in Armutsvierteln oder sozialen Brennpunkten. In den Blick genommen werden auch die Auflösung der sozialen Netzwerke, der Ausschluss von einer angemessenen politischen und kulturellen Teilhabe sowie psychische Folgen wie ein geschädigtes Selbstbild, lähmende Gefühle der Erniedrigung und Missachtung, der Chancen- und Perspektivlosigkeit. Es geht aber nicht nur um den Blick auf die verschiedenen Dimensionen von Exklusion, sondern auch um die Erforschung der Zusammenhänge zwischen diesen Dimensionen, ihre wechselseitige sich steigernde Verstärkung.
  • Das bipolare Modell wird häufig zu einem Drei-Zonen-Konzept erweitert, wie es der französische Soziologe Robert Castel (2000) entwickelt hat. Dieser platziert zwischen den beiden Polen Exklusion und Inklusion eine Zwischenzone und nennt sie die "Zone der sozialen Verwundbarkeit", in Deutschland in der Regel "Zone der Prekarität" genannt. Diese Zone verbindet das Drinnen mit dem Draußen. Sie lenkt den Blick auf Zonen der prekären Unsicherheit im Drinnen, auf Gruppen, deren Inklusion instabil geworden ist und die daher Gefahr laufen, ins Draußen zu rutschen und ausgegrenzt zu werden. So wird zum Beispiel in der vertikalen Struktur eine "verunsicherte Mitte" (Martin Kronauer) ausgemacht mit versperrten Aufstiegschancen, schwindender Arbeitsplatzsicherheit, zunehmenden Schwierigkeiten bei der Aufrechterhaltung des Lebensstandards und unsicheren Zukunftsaussichten der Kinder.

Im Vergleich zu den anderen Modellen hat das Exklusion-Inklusion-Modell einen stark eingeschränkten Blickwinkel. Es ist fokussiert auf eine kleine Gruppe von extrem Benachteiligten sowie auf die gesellschaftlichen Gefahrenzonen, auf Gruppen, deren Position im Drinnen prekär geworden ist. Dabei muss hervorgehoben werden, dass dieser Fokus auf extreme Benachteiligung und Prekarität von besonderer gesellschaftspolitischer Bedeutung ist.

 

Ein analytischer Vorteil des Modells besteht darin, dass es ermöglicht, Exklusionsprozesse und -risiken in vielen Bereichen der Sozialstruktur, in verschiedenen Schichten, Soziallagen und Milieus ausfindig zu machen. Das Modell kann Ausgrenzungsprozesse und -risiken erfassen, die zum Teil "quer" zur vertikalen Ungleichheitsstruktur und zur Milieustruktur liegen.

 

Allerdings suggerieren diese Einzelbeobachtungen ein falsches Bild vom Umfang der Zonen von Exklusion und Prekarität auf den verschiedenen Ebenen des Gefüges der sozialen Ungleichheit. Die verarmten, in einem sozialen Brennpunkt lebenden Professoren und Banker dürften Ausnahmefälle sein, aber es gibt Zigtausende von armen, arbeitslosen Ungelernten. Quantitative Analysen belegen, dass Ausgrenzung und Prekarität sehr deutlich schichttypisch ungleich verteilt sind. Das Exklusion-Inklusion-Modell erfasst soziale Realität daher am besten, wenn es in Kombination mit dem Klassen-Schichten-Modell eingesetzt wird."

 

Solltet ihr weitergehende Literatur dazu benötigen, empfehle ich zum Beispiel diesen Artikel von Rudolf Stichweh, oder auch Silke van Dyks Beitrag in APuZ.

(Zitat aus: http://www.soziologie.uni-jena.de/soziologie_multimedia/Downloads/LSDoerre/KronauerMartinBE.pdf; Stand: 10.08.2019;

Bildquelle: https://pixabay.com/users/markusspiske-670330/)

 


Bonus: soziale Lagen

Schichtmodelle berücksichtigen im Wesentlichen "vertikale" Ungleichheiten zwischen oben und unten. Sie sind weitgehend blind für "horizontale" Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen, alt und jung, verschiedenen Generationen oder auch Regionen, Verheirateten und Ledigen, Kinderreichen und Kinderlosen. Um die Vielgestaltigkeit und Vieldimensionalität der Ungleichheitsstruktur besser zu erfassen, wurden gegen Ende der 1980er-Jahre Modelle der "sozialen Lagen" entwickelt. Sie berücksichtigen neben den vertikalen zugleich auch horizontale Ungleichheiten.

 

Die Wohlfahrtsforschung untersucht, wie materielle Ressourcen ("objektive Wohlfahrt") und "Lebenszufriedenheit" ("subjektive Wohlfahrt") über die Bevölkerung verteilt sind und verwendet dazu auch das feine Raster des Lagenmodells. So werden zum Beispiel für ein am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) benutztes Modell neben dem "vertikalen" Kriterium Berufsposition die "horizontalen" Kriterien Geschlecht, Alter (unter/über 60 Jahre) und Region (Ost/West) herangezogen. Aus der Kombination dieser vier Merkmale entstehen 64 Soziallagen, die einen relativ differenzierten Einblick in die Verteilung der materiellen Ressourcen und die Unterschiede im subjektiven Wohlbefinden der Bevölkerung vermitteln.

 

So lassen sich etwa Arbeitslose sowie Un- und Angelernte als Problemgruppen mit geringen Ressourcen, niedriger Selbsteinstufung, vielen Sorgen und einem hohen Grad an Unzufriedenheit identifizieren. Die Defizite der Un- und Angelernten sind in den neuen Bundesländern gravierender als in den alten. Den Gegenpol dazu bilden die leitenden Angestellten und höheren Beamten in Westdeutschland: Mit guten materiellen Ressourcen können sie ein relativ sorgenfreies und zufriedenes Leben führen, und sie stufen sich auf der Oben-unten-Skala mit Abstand am höchsten ein.

 

Das beispielhaft angeführte Lagenmodell macht aber auch deutlich, dass der Versuch, die Vielgestaltigkeit der Ungleichheitsstruktur gesamthaft in einem Modell einzufangen, schnell an Grenzen stößt. Obwohl in den 64 Soziallagen wichtige Ungleichheitskriterien wie Unterschiede zwischen Stadt und Land, Nationalität, Familienstand und Generation unberücksichtigt bleiben, mutet es bereits recht unübersichtlich an.

(Quelle: http://www.bpb.de/izpb/198045/facetten-der-modernen-sozialstruktur?p=all)