zu erledigen bis: KW 10 (Freitag) Dieses Mal ist zumindest die Gerechtigkeitstheorie von Rawls verpflichtend.


Hintergrundmaterial mit Aufgaben zur selbstständigen Bearbeitung

  1. Arbeite aus M1 die Argumente des Autors heraus.
  2. Beurteile seine Sicht der Dinge.
  3. Arbeite aus M2 die wesentlichen Grundzüge von Rawls Gerechtigkeitstheorie heraus.
  4. Beurteile, ob nach Rawls Gerechtigkeitsverständnis eine Vermögensteuer eingeführt werden sollte und was die ausschlaggebenden Argumente dafür/dagegen sind.

Das war's. Und bevor ihr irgendwas sagt: Sooooo lang sind die Texte auch nicht. Welt online schreibt bei der Lesezeit für M1, dass es 9 Minuten seien. Das bekommt ihr hin, da glaube ich fest an euch...


M1: Demografie- Lüge: Die niedrige Geburtenrate ist ein großer Gewinn für uns (Wolfgang Kaden)
Bei der Betrachtung der Entwicklung der Geburtenrate in Deutschland herrscht oft Alarmstimmung. Der Kolumnist von BILANZ, Wolfgang Kaden, hält dies jedoch für übertrieben und weniger für mehr. So schreibt er:

"Darauf muss man erst einmal kommen: Da befand die Junge Union, die Nachwuchsorganisation der CDU, dass zu wenige Kinder geboren würden und dass die Obrigkeit tatkräftiger noch als bisher nachhelfen solle, um Abhilfe zu schaffen. Der Staat solle fortan tausend Euro Prämie für jedes Neugeborene überweisen.

Solide finanziert durch eine Sonderabgabe, geleistet von jenen Zeitgenossen, die sich der Fortpflanzung entziehen. Ein Prozent des Bruttoeinkommens fanden die CDU-Junioren als angemessen, lebenslang.

Der Vorschlag verhallte ohne bemerkenswertes Echo in der Öffentlichkeit. Gleichwohl darf die Idee als Symptom einer weitverbreiteten Stimmungslage im Volk bewertet werden: Den Deutschen gingen wegen der wenigen Geburten die Arbeitskräfte aus; das Land verlöre an Innovationskraft und degenerierte zum Altersheim; die Renten wären bald nicht mehr bezahlbar, der Staatshaushalt litte Not. Auf die Demoskopenfrage nach den größten Gefahren für Deutschland antworteten 56 Prozent: Dies sei die Alterung der Gesellschaft.

 

Die Ängste werden stetig genährt, wie der Blick in einen Internet-Buchladen bestätigt, wenn man das Stichwort „Geburtenrückgang“ eingibt. Von „Deutschland armes Kinderland – wie die Ego-Gesellschaft unsere Zukunft verspielt“ der „Zeit“-Journalistin Susanne Mayer aus dem Jahr 2002 bis zu dem Sammelband „Die demografische Zeitbombe“ etlicher Wissenschaftler aus dem vorigen Jahr – das Publikum findet Untergangsliteratur in Hülle und Fülle.

Für wünschenswert halten die Mahner mindestens 2,1 Kinder pro Frau. Mit dieser Durchschnittsgröße sei der Bestand des Volkes gesichert. Von diesem Zielwert sind die Deutschen jedoch weit entfernt. Sie brachten es 1995 gerade mal auf 1,25 Kinder. Zuletzt war der Jubel groß, als die Geburtenrate für 2015 auf 1,5 gestiegen war.

Doch das Plus war fast ausschließlich nicht-deutschen Frauen zuzuschreiben; die mit deutschem Pass schafften nur einen Schnitt von 1,43.

 

Kinder sind eine großartige Bereicherung, so habe ich es immer empfunden. Aber die anhaltende Aufregung über ein angeblich dramatisches Geburtendefizit kann ich nicht nachvollziehen.

Und das nicht nur aus übergeordneten, ökologischen Gründen – weil die Spezies Mensch sich in den vergangenen 150 Jahren mit einer so atemberaubenden, nie da gewesenen Geschwindigkeit vermehrt hat, dass die schiere Masse unserer Gattung zur größten Bedrohung für die Lebensmöglichkeiten auf unserem Planeten geworden ist. Sondern auch und gerade mit Blick aufs eigene Land.

 

Zunächst einmal schimmert mir bei den Panikattacken allzu sehr völkisches Gedankengut durch, das sich offenkundig über alle gesellschaftlichen Veränderungen hinweg festgesetzt hat. Schon vor dem Ersten Weltkrieg wurde im Deutschen Reich Klage darüber geführt, dass die Frauen zu wenige Kinder gebärten. „Der Kaiser braucht Soldaten“, hieß es.

Die Nazis taten dann auch alles Mögliche, um die Geburtenrate zu stimulieren (vergebens übrigens). Und heute hören wir von der AfD-Vorsitzenden Frauke Petry, es bedürfe einer „aktiven Bevölkerungspolitik“; garniert mit dem peinlichen Hinweis: „Ich habe vier Kinder, Angela Merkel hat keine.“

 

Den „deutschen Bevölkerungswahn“ nannte das der verstorbene Soziologe Karl Otto Hondrich. In seinem 2007 erschienenen Buch „Weniger sind mehr“ hat er überzeugend dargelegt, warum der Geburtenrückgang mitnichten einen Grund für apokalyptische Szenarien biete, sondern, im Gegenteil, „ein Glücksfall für unsere Gesellschaft“ sei.

Vor allem bedeute der Geburtenrückgang einen „Modernisierungsgewinn“: Mit steigendem Wohlstand und höherer Bildung sinkt in der Regel die Kinderzahl. Oder: je höher die ökonomische Produktivität, umso geringer die Fertilität.

Abgesehen von den fehlenden Möglichkeiten und Kenntnissen der Empfängnisverhütung, gab es in agrarischen und frühindustriellen Gesellschaften zwei gute Gründe für reichen Nachwuchs. Zum einen waren Kinder Arbeitskräfte. Und zum anderen benötigte man sie, damit im Alter der Lebensunterhalt gesichert war.

 

Beide Gründe sind längst entfallen. Kinderarbeit ist in entwickelten Volkswirtschaften verboten, zudem besteht Schulpflicht. Und für das Einkommen in der letzten Lebensphase sorgt hierzulande seit über hundert Jahren die staatliche Pflichtversicherung.

Heutzutage gibt es in modernen Gesellschaften viele Gründe, warum Menschen wenige oder gar keine Kinder haben wollen. Ganz oben stehen, so ist unsere Welt nun einmal, ökonomische Erwägungen. Eigener Nachwuchs kostet Geld, heute mehr denn je zuvor.

 

Pro Kind sind das bis zum Eintritt in den Beruf mindestens 200.000 Euro, je nach Dauer der Ausbildung und dem Konsumstandard der Familie. Diese Kosten werden durch staatliche Hilfen wie das Kindergeld nur zum kleineren Teil ausgeglichen. Zudem mindern Kinder das Familieneinkommen, wenn sie einen Elternteil, immer noch meist die Mutter, von einer Erwerbstätigkeit oder vom beruflichen Aufstieg fernhalten.

 

Die traditionelle Hausfrauenehe ist zum Auslaufmodell geworden. Immer mehr Frauen absolvieren eine aufwendige Ausbildung und wollen das Erlernte auch anwenden. Knapp 30 Prozent der Akademikerinnen sind angeblich kinderlos.

Viele Frauen, vor allem höher gebildete, bekommen heute ihr erstes Kind erst jenseits der dreißig, wenn sie bereits Berufserfahrung gesammelt haben – und belassen es bei diesem einen.

Man mag diese Lebensform als Ausdruck eines schnöden Materialismus verdammen, mag sie als egoistische Selbstverwirklichung verurteilen. Doch das ist müßig: Sie ist gesellschaftliche Realität, Ergebnis freier, individueller Entscheidung.

 

Nicht nur in Deutschland ist das so, sondern, mit Ausnahmen, in den meisten Industriegesellschaften. Die moderne Medizin und Pharmazie gewährt Frauen und Paaren diesen Gestaltungsspielraum – und die lassen sich diese Freiheit nicht einschränken von Leuten, die „Schreckensszenarien der Vergreisung“ (Hondrich) entwerfen.

 

Diese Wahrheit müssen auch jene Politiker zur Kenntnis nehmen, die glauben, mit einer Vielzahl staatlicher Subventionen die Bürger fürs Kinderkriegen gewinnen zu können. Es entspricht sicher dem Gerechtigkeitsgebot, wenn der Staat die Lasten, die Familien mit Kindern zu tragen haben, ein Stück weit umverteilt.

 

In Deutschland geschieht das mit einer schier unüberschaubaren Zahl von direkten und indirekten Zuwendungen – vom Kinder-, Eltern- oder Mutterschaftsgeld bis zum Bau von Kindertagesstätten. Insgesamt sind das stolze 200 Milliarden Euro, die sich die Regierung jährlich die Förderung der Familien kosten lässt. Zieht man davon die sogenannten „ehebezogenen Leistungen“, wie das Ehesplitting, von 125 Milliarden ab, bleiben für die Förderung des Nachwuchses 75 Milliarden.

Die Gebärfreudigkeit wird durch dieses Geld allerdings kaum beflügelt. Martin Bujard vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung kommt in einer gründlichen Untersuchung zu dem Resultat: „Die Familienpolitik spielt eine wichtige Rolle. Sie kann die Geburtenrate aber nicht steuern, vor allem nicht kurzfristig.“

 

Man wird sich damit abfinden müssen, dass Deutschland seine Zukunft mit einer schrumpfenden einheimischen Bevölkerung gestalten muss. Was ja durchaus machbar ist, auch wenn regelmäßig vor „dramatischen Verwerfungen, Spannungen und Verteilungskämpfen“ gewarnt wird (wie es marktschreierisch auf dem Umschlag des Buchs „Die demografische Zeitbombe“ heißt).

 

So ist es Unfug, wenn ein „Krieg der Generationen“ ausgerufen wird, wenn das Wochenmagazin der sonst so seriösen „FAZ“ titelt: „Jung gegen Alt – wie die Rente die Generationen spaltet“. Wo, bitte, wird denn da gespalten, wo spielt sich der Krieg ab? Ich kann in meinem Umfeld nirgendwo einen solchen kriegerischen Zustand entdecken.

 

Der Nachwuchs ist eingebunden in Familien, mit Eltern oder Großeltern – und er gönnt, ganz und gar solidarisch, den Älteren ihren Wohlstand. Da sind schon kräftige emotionale Bande vorhanden. Und wenn die ausnahmsweise mal nicht wirken, dann können die Älteren dem Nachwuchs klarmachen, was sie ihm kostenfrei mitgeben: ein Land mit hervorragender Infrastruktur, mit in Generationen erworbenem Wissen, mit einem Rekord an Immobilienvermögen und industriellem Kapitalstock.

Viele können überdies sicher sein, eines Tages mehr zu erben als je eine Generation vor ihnen. Und nicht zuletzt: Nirgendwo auf der Welt haben junge Menschen heute bessere Chancen als in Deutschland. So jedenfalls ermittelte es jüngst die britische Regierung in einem „Jugend-Entwicklungs-Index“ für 183 Länder.

 

Aber die Jungen müssen doch um ihre Rente bangen, heißt es: Sie zahlen hohe Beiträge, ohne die Gewissheit, im Alter so gut versorgt zu sein wie die jetzige Generation der Ruheständler. Immer mehr Alte, die kassieren, stünden immer weniger Jungen gegenüber, die zahlen.

 

Das mag tatsächlich so kommen. Obwohl bislang die Zahl der Erwerbstätigen nicht rückläufig ist, sondern gerade einen Höchststand erreicht hat – weil mehr Frauen arbeiten, weil die Zuwanderung anhält. Anlass zur Panik liefert aber auch die Sorge um die Altersbezüge nicht.

 

„Grundsätzlich müsste die Ruhestandsgrenze automatisiert an die stetig steigende Lebenserwartung angepasst werden.“

Die Zahlungsprobleme der Rentenkassen entstehen ja hauptsächlich, weil die Menschen deutlich länger leben; im Schnitt sind das heute über 80 Jahre, in den Zwanzigern waren es nicht einmal 60 Jahre. Was dabei gern übersehen wird: Die Menschen bleiben auch länger gesund – und arbeitsfähig.

 

Deshalb ist die von Gewerkschaftern und linken Politikern zum unverrückbaren Datum erklärte Altersgrenze von 65 oder gar 63 Jahren ein Anachronismus. Selbst die für 2030 angepeilten 67 Jahre sind schon überholt; die Bundesbank schlägt vor, bis 2060 das Renteneintrittsalter auf 69 Jahre anzuheben, was eher zu vorsichtig ist.

Grundsätzlich müsste die Ruhestandsgrenze automatisiert an die stetig steigende Lebenserwartung angepasst werden, was in Finnland und Dänemark bereits geschieht.

 

Gewiss, nicht alle können jenseits der 65 oder 63 noch einer täglichen Ganztagsbeschäftigung nachgehen, vor allem, wenn sie körperliche Arbeit verrichten. Vielen ist das aber noch möglich, zumindest wenn sie Teilzeit tätig sind. Und so wird überall in Europa die überholte Ruhestandsgrenze nach oben verschoben. Oder sie wird flexibler gestaltet; in Deutschland soll dies jetzt durch eine Gesetzesänderung erleichtert werden.

 

Manch einer hat das neue Gesetz für sich schon vorweggenommen: 2005 lag der Anteil der berufstätigen Rentner noch bei lediglich 6,5 Prozent; im vergangenen Jahr waren es schon 14,5 Prozent. Dazu kommt noch die Heerschar der grauhaarigen Schwarzarbeiter.

 

Bliebe zum guten Schluss noch das Argument, weniger Nachwuchs würde die Wirtschaft schwächen, eine alternde Gesellschaft sei weniger innovativ. Dagegen lässt sich anführen, dass weniger Geburten in Wohlstandsgesellschaften ein globales Phänomen sind – Deutschland sich also in bester Gesellschaft befindet.Und dass Industriegesellschaften mit einer ausnahmsweise höheren Geburtenrate, wie beispielsweise Frankreich, keineswegs wettbewerbsfähiger sind.

 

Nein, es gibt wahrlich keinen Grund, die vergleichsweise niedrige Geburtenrate stets aufs Neue zu beklagen. Die schrumpfende Bevölkerung ist, im Gegenteil, ein Grund für Optimismus, vor allem, wenn der Blick über den nationalen Tellerrand hinausgeht. Es sei denn, wir verdrängen weiterhin, welche Folgen das exponentielle Wachstum der Menschheit hat: Hungerkatastrophen, Kriege, Völkerwanderung, Umweltzerstörung.

 

Deutschland ist eine der am dichtesten besiedelten Regionen der Erde. Wenn die Einwohnerzahl nach einer langen Periode steter Zunahme langsam wieder schrumpft, heißt das eben auch: weniger Ansprüche an Wohnraum und Verkehr, weniger betonierte Flächen, weniger Energieverbrauch, weniger Schadstoffausstoß. Alles Gewinne.

Karl Otto Hondrich, der Soziologe, hatte recht: Weniger ist mehr."

(Zitat aus: https://www.welt.de/wirtschaft/bilanz/article162954750/Die-niedrige-Geburtenrate-ist-ein-grosser-Gewinn-fuer-uns.html)


M2: John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit

 

Wir sprechen beim Thema Sozialstaat sehr viel über Gerechtigkeit. Da dieses Thema nicht nur ein gemeinschaftskundliches, sondern auch ein philosophisches ist, lohnt es sich, einen kleinen philosophischen Exkurs zu machen. Einer der absoluten modernen Klassiker in dieser Hinsicht ist John Rawls "Theorie der Gerechtigkeit". Ernst Tugendhat schreibt hierzu in einem - zugegeben älteren, aber nach wie vor sehr guten - Artikel in der Zeit:

 

"Kein philosophisches Buch der letzten Jahrzehnte hat sofort nach seinem Erscheinen so viel Aufsehen erregt wie 1971 die „Theorie der Gerechtigkeit“ des bis dahin wenig bekannten Harvard-Professors John Rawls. Schon der Titel war eine Provokation. Denn: ist Gerechtigkeit überhaupt ein möglicher Gegenstand für eine Theorie Die heute übliche Meinung ist, daß Gerechtigkeit eine Standpunktfrage ist.

 

Eine einfache Überlegung scheint diese relativistische Auffassung zu stützen. Geht man von der nächstliegenden Vorstellung aus, daß ein Gemeinwesen dann gerecht organisiert ist, wenn die sozialen Güter, die in ihm zu verteilen sind – wie Einkommen, Macht, Rechte –, an alle gleichmäßig verteilt sind, erhebt sich der Einwand, daß Gleichbehandlung bei ungleichen Voraussetzungen ungerecht sein könne. Zum Sinn von Gerechtigkeit scheint ein Maßstab zu gehören, und worin dieser bestehen soll, darüber scheint man zu keiner Übereinstimmung kommen zu können. Manche sagen (zum Beispiel): Jedem nach seiner Leistung!“, andere „Jedem nach seinen Bedürfnissen! Und schon Aristoteles hat darauf hingewiesen, daß der Maßstab, der einer sozialen Gruppe evident scheint, von den sozioökonomischen Bedingungen abhängt, in denen sie sich befindet.

 

Gleichwohl scheint eine solche Standpunktbedingtheit, sobald man sich ihrer bewußt wird, dem Sinn von Gerechtigkeit zu widersprechen. Muß es denn nicht, wenigstens der Idee nach, eine Position geben, von der aus man die relative Berechtigung der von den verschiedenen Standpunkten geltend gemachten Maßstäbe ihrerseits beurteilen kann? Das wäre eine Position der Unparteilichkeit. Auch sie ist egalitär ["gleich"], aber im Unterschied zum Standpunkt der Gleichverteilung ist dies ein Egalitarismus höherer Stufe. Er besagt: jeder einzelne ist in gleichem Maße zu berücksichtigen, und das kann durchaus zu Ungleichheiten führen. [...]

 

 

Als Leitfaden [...] schlägt Rawls folgendes fiktive Verfahren vor. Wir lassen, sagt er, das Problem nicht von einem Unbeteiligten, sondern von den Beteiligten selbst entscheiden, aber wir binden ihnen, wie der Gestalt der Justitia, einen „Schleier der Unwissenheit“ um: sie sollen nur das reale Problem selbst kennen, nicht hingegen wissen, welche Stelle sie darin einnehmen werden. Und nun brauchen wir bei ihnen keinen. Gerechtigkeitssinn vorauszusetzen. Wir lassen sie wählen, wie sie das Problem aus der Perspektive ihres Eigeninteresses gelöst sehen möchten.

 

Dieses Modell ließe sich auf beliebige Gerechtigkeitsprobleme anwenden. Rawls führt es nur für den speziellen, aber grundlegenden Fall durch, der die Gerechtigkeit der Prinzipien betrifft, die die fundamentale Struktur einer Gesellschaft festlegen. In diesem Fall nimmt die Entscheidung, die unter dem Schleier der Unwissenheit stattfinden soll, die Form einer „ursprünglichen Übereinkunft“ an.

 

Rawls versucht ausführlich zu begründen daß man sich dabei auf folgende Prinzipien einigen würde:

1. Die fundamentalen Bürgerrechte sind zu gewährleisten, und mit Bezug auf sie gilt strikte Gleichheit.

2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten können gegebenenfalls im Interesse aller sein; das heißt aber, sie sind nur dann berechtigt, wenn sie auch den am wenigsten Begünstigten mehr Vorteile bringen als strikte Gleichheit; außerdem ist soweit wie nur möglich Chancengleichheit zu gewährleisten.

3. Das erste Prinzip hat absoluten Vorrang vor, dem zweiten, das heißt eine Einschränkung der Bürgerrechte zugunsten ökonomischer Vorteile soll ausgeschlossen sein.

 

Aus diesen Prinzipien folgt, daß der soziale und liberale demokratische Staat das einzige gerechte politische System ist. Rawls [...] [greift zurück] auf das „kontraktualistische“ (vertragstheoretische) Denken der Aufklärung, das seit Anfang des 19. Jahrhunderts in der englischen und amerikanischen Philosophie durch den Utilitarismus verdrängt worden war. Dem Utilitarismus zufolge ist dasjenige gesellschaftliche System das beste, das das größte Glück der meisten befördert (gleichgültig wie es sich verteilt).

 

Entsprechend heftig und aus den verschiedensten philosophischen und politischen Richtungen kam auch die Kritik. Keines der von Rawls aufgestellten Prinzipien hat sie ungeschoren überlebt. Der absolute Vorrang der Bürgerrechte zum Beispiel trifft sicher etwas Richtiges, läßt sich aber schon deswegen nicht so schlicht behaupten, weil es gar keinen einheitlichen und scharf umgrenzten Begriff der Bürgerrechte gibt. [...]

 

Man muß jedoch die Frage, ob es einleuchtet, daß man sich bei einer ursprünglichen Übereinkunft gerade auf die von Rawls genannten Prinzipien einigen würde, von der Frage unterscheiden, ob Rawls’ Ansatz bei der Idee einer solchen Übereinkunft richtig ist."

 

Auch in der politischen Theorie hat dieser Ansatz entsprechend Niederschlag gefunden. Gerade der "Schleier der Unwissenheit" ist ein interessantes Instrument, um sozialpolitische Maßnahmen zu beurteilen.

 

(Zitat aus: http://www.zeit.de/1983/10/eine-theorie-der-gerechtigkeit/komplettansicht (gekürzt)